Dienstag, 1. Januar 2008

"Gerecht und angemessen"

Bundestagspräsident Norbert Lammert bei Berlin direkt am 30. Dezember 2007.
von Peter Hahne



Bundestagspräsident Norbert Lammert hält ein Eingreifen der Politik in der Diskussion um Managergehälter für falsch. Gleichwohl seien die Größenordnungen der Bezüge "mit dem gesunden Menschenverstand nur noch schwer nachzuvollziehen", sagte er im Gespräch mit Berlin direkt. Dagegen verteidigte der Parlamentspräsident die Diätenerhöhung der Abgeordneten. Durch die Senkung der Altersversorgung habe man "den Erwartungen und dem Gerechtigkeitsbedürfnis" angemessen Rechnung getragen.
ZDF: Herr Lammert, Sie haben von "Balance halten" gesprochen. In Wahrheit ist es doch aber so, dass die Linkspartei die Politik jetzt aufmischt. Lafontaine treibt auch die Volksparteien, auch ihre CDU, mit seinen Themen vor sich her. Warum zeigen Sie nicht klare Kante? Denn er punktet ja in den Umfragen.

Norbert Lammert: Na ja, also ob deswegen andere Parteien weniger klare Kante zeigen, darüber kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Im Übrigen ist das auch sicher eher Aufgabe der Parteivorsitzenden und der Generalsekretäre als des Parlamentspräsidenten, den Parteien zu einer klareren Kante zu verhelfen.

ZDF: Aber der Bundespräsident - auch ein neutrales Amt - hat sich gestern sehr deutlich eingemischt beim Stichwort "Mindestlohn". Er sagt, der vernichte Arbeitsplätze. Genau da hat die Union ja nun ein völlig unklares Bild. Sie verschrecken doch eigentlich diejenigen, die der Bundespräsident hauptsächlich als vernachlässigte Gruppe sieht, nämlich die Mittelschicht.
Lammert: Das ist mein Eindruck nicht, was die klare oder weniger klare Position betrifft. Die Union hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie einen gesetzlichen Mindestlohn zwar für gut gemeint, aber nicht für wirklich hilfreich hält. Vor allen Dingen mit Blick auf die gewünschte Zahl von zusätzlich dringend erforderlichen Arbeitsplätzen. Aber dass es bei den Menschen das Bedürfnis gibt, sich an etwas festzuhalten und dass sich deswegen vor allen Dingen an solchen Themen neue Mehrheiten bilden, das überrascht mich nicht.

Wenngleich ich für ebenso aufschlussreich halte, dass der andere Koalitionspartner dieses Thema nun mit großem Nachdruck verficht, obwohl er in den Jahren zuvor als dominierender Partner einer rot-grünen Koalition die Möglichkeit gehabt hätte, dieses Thema gesetzlich zu regeln. Es muss Gründe gehabt haben, warum man darauf verzichtet hat. Ich vermute, es ist die gleiche Skepsis was die Zweckmäßigkeit dieser Regelung angeht, die heute auch einen Teil der öffentlichen Diskussion und auch den Hinweis des Bundespräsidenten bestimmt.

ZDF: Aber diese klare Kante, der CDU zu sagen, mit uns nicht, ist ja zumindest durch den Postmindestlohn aufgeweicht worden. Wie wollen Sie denn dann Ihren Wählern sagen, es lohnt sich CDU zu wählen? Denn das ehemalige, jetzt ruhelassende CDU-Mitglied Köhler ist ja eher in der FDP zu finden.

Lammert: Das würde er selbst ganz sicher anders sehen, als Sie das jetzt charakterisiert haben, und im Übrigen besteht natürlich zwischen einem gesetzlichen Mindestlohn und tariflich vereinbarten Mindestlohnentgelten ein prinzipieller Unterschied. Ein gesetzlicher Mindestlohn ist, wie der Begriff sagt, ein vom Gesetzgeber festgelegter völlig unabhängig von den jeweiligen Verhältnissen einer Branche geltender Rechtsanspruch auf eine Mindestbezahlung. Während es sich bei den jetzt in der Diskussion befindlichen, beziehungsweise bei der Post beschlossenen Entgeltregelungen um Vereinbarungen von Tarifpartnern handelt. Zugegebenermaßen, was den Postbereich angeht unter ganz untypischen problematischen Rahmenbedingungen.

Aber es ist ein prinzipieller Unterschied, ob wir bei der bewährten Praxis bleiben, wofür ich, wie die Union im Ganzen, mit Nachdruck eintrete, dass die Festlegung von Löhnen Aufgabe der Tarifparteien und nicht Aufgabe des Staates ist oder ob man mit einem gesetzlichen Mindestlohn eine prinzipielle Veränderung dieser Zuständigkeitsverteilung vornimmt.

ZDF: Wer soll sich um die Managergehälter kümmern? Kurt Beck sagt, man müsse ein Gesetz schaffen, das sie begrenzt.

Lammert: Dazu gilt die gleiche Logik. Auch dafür ist die Politik völlig ungeeignet. Wenn es für die niedrigeren Löhne richtig ist, dass das mit Hilfe staatlicher Entscheidungen nicht angemessen und überzeugend geregelt werden kann, dann gilt das selbstverständlich für die hohen und die besonders hohen Gehälter auch, wenngleich die zweite Parallele sicher auch darin besteht, dass es bei den niedrigen und den ganz hohen Gehältern manche Größenordnung gibt, die mit dem gesunden Menschenverstand nur noch schwer nachzuvollziehen sind.

ZDF: Es ist Mode geworden, über die Managergehälter zu sprechen und sie zu kritisieren. Sie haben sogar auch die Sportler entdeckt. Aber müsste es nicht eher, wie der Bundespräsident das anmahnt, um die Mittelschicht gehen? Die trägt schließlich die große Steuerlast. Würden Sie sagen, die CSU hat jetzt Recht, wenn sie sagt, Steuern senken.

Lammert: Jedenfalls stimme ich dem Bundespräsidenten ausdrücklich zu, dass wir eine Schieflage in der öffentlichen Diskussion in soweit haben, als wir uns mit den Ausreißern beschäftigen, mit dem was wir an der einen oder anderen Stelle für jedenfalls nicht üblich und an manchen Stellen auch nicht für angemessen halten. Während diejenigen, die den Großteil der Arbeit, den Großteil der Verantwortung in unserem Land tragen in der öffentlichen Diskussion fast nicht vorkommen. Dass das wiederum nicht nur die gute Laune der Betroffenen strapaziert, das finde ich mehr als nur einleuchtend.

ZDF: Ist das ein richtiger Vorschlag von Peter Ramsauer zu sagen, Steuern runter gerade für diese Gruppe?

Lammert: Ja, grundsätzlich wird ja jeder für Steuersenkungen sein und gegen zusätzliche Abgabenbelastungen. Ein solcher Vorschlag muss konkretisiert werden, um ernsthaft diskussionsfähig zu sein. Da ist ja auch die Frage der Größenordnung genauer zu betrachten, bevor man dazu ein abgeschlossenes Urteil abgeben kann. Ich empfehle uns sehr, dass wir bei der Linie bleiben, die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, konsequent fortzusetzen. Aber da, wo sich aufgrund einer günstigeren wirtschaftlichen Entwicklung auch günstigere Steuereinnahmen, Verteilungsspielräume ergeben, muss eine Entlastung - insbesondere in dem Bereich - sicher mit Vorrang angepeilt werden.

ZDF: Haben Sie im Hinblick auf die Gerechtigkeitsdebatte dafür Verständnis, dass die Bürger sagen, ausgerechnet jetzt, wo man über Managergehälter und Mindestlohn redet, stopfen sich die Politiker die Taschen voll. Stichwort Diätenerhöhung.

Lammert: Ja, natürlich habe ich für diese Debatte Verständnis, zumal ich so lange dabei bin, dass ich nicht weiß, wie viele Runden dieser Debatte ich in meiner Erinnerung abgespeichert habe. Ein Teil und vielleicht ein wesentlicher Teil des Problems besteht im Übrigen darin, dass jede Debatte zu diesem Thema im öffentlichen Bewusstsein als stattgefundene Anpassung abgespeichert wird. Tatsächlich ist die Realität aber genau umgekehrt. Wir haben jetzt über viele Jahre keine Anpassung vorgenommen, und prompt findet die Debatte statt, auf die Sie gerade Bezug nehmen.

ZDF: Herr Lammert, ist die Diätenerhöhung immer noch gerecht?

Lammert: Nach einer sehr gründlichen und sorgfältigen Diskussion, haben wir am Ende eine Entscheidung getroffen, die ich sowohl für gerecht wie für angemessen halte. Dabei muss ja berücksichtigt werden, dass wir jetzt für einen insgesamt sechsjährigen Zeitraum im Durchschnitt pro Jahr die Bezüge um 1,6 Prozent angehoben haben. Das finde ich durchaus angemessen, und gleichzeitig haben wir die Versorgungsansprüche um etwa 16 Prozentpunkte gesenkt. Ich glaube, damit tragen wir auch den Erwartungen und dem Gerechtigkeitsbedürfnis mit Blick auf veränderte Ansprüche auf Altersversorgung anderer angemessen Rechnung.

ZDF: Sie haben offensiv, was die Integrationspolitik angeht, das Wort "Leitkultur" verwendet. Jetzt haben wir diesen schlimmen Vorfall in München. Roland Koch sagt, schärfere Gesetze, schnellere Ausweisungsmöglichkeiten für kriminelle Ausländer. Hat er Recht?

Lammert: Wie immer, sind die Zusammenhänge ja meist etwas komplizierter als sich in den Überschriften dann vernünftig ausdrücken lässt.

ZDF: Ja, oder macht er damit Wahlkampf?

Lammert: Ich habe aus guten Gründen seit vielen Jahren für eine stärkere Berücksichtigung kultureller Aspekte in unserem Zusammenleben geworben und ich fühle mich in den Erfahrungen der letzten Monate in dieser Einschätzung sehr bestätigt. Übrigens auch ermutigt, was den Gang der Debatte angeht, die ja heute eine völlig andere Tonlage hat, als noch vor zwei oder vor drei Jahren. Keine Gesellschaft kann ihren inneren Zusammenhalt wahren, ohne ein Mindestmaß an gemeinsamen Überzeugungen, auch an Verbindlichkeiten, die für alle gelten. Das, was wir zum Teil in solchen spektakulären Ereignissen dann immer wieder registrieren müssen, ist im Kern nach meiner Überzeugung nicht ein Mangel an gesetzlichen Regelungen, sondern ein Mangel an kulturellen begründeten Verhaltensmustern.

ZDF: Also würden Sie Roland Koch raten, das aus dem Wahlkampf rauszuhalten?

Lammert: Solche Themen lassen sich aus Wahlkämpfen nicht heraushalten, denn das was die Menschen beschäftigt - und solche Ereignisse beschäftigen die Menschen - wird auf ganz unvermeidliche Weise auch zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung. Aber wir sollten jedenfalls vorschnelle Antworten vermeiden, zumal gerade bei besonders dramatischen Ereignissen ein paar Tage Abstand für ein abgewogenes Urteil meistens hilfreich sind.

ZDF: Zur Integration, auch zur eigenen Identität gehört Bildung. Eine Berliner Universität hat jetzt gerade ermittelt, dass jeder dritte Schüler Willy Brandt für einen DDR-Politiker und die DDR auch nicht für eine Diktatur hält. Haben wir es jetzt so wie in den 50er Jahren? Haben wir die Nazi-Diktatur verdängt und jetzt kommt sozusagen eine Verklärung der DDR?

Lammert: Ich vermute weniger, dass wir es mit einer Tendenz zur Verklärung der DDR zu tun haben, sondern wir haben mit einem erschreckenden Mangel an Kenntnissen zu tun, insbesondere auch an historischen Kenntnissen. Ich habe selber in meiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit eine Reihe ähnlich abstruser Beispiele zitiert, die sich inzwischen in wissenschaftlichen Untersuchungen wiederfinden. Hier kommt ganz offenkundig ein Defizit zum Vorschein, das insbesondere in dem Fächerkanon unserer Schulen bedient werden muss. Wir haben eine Vernachlässigung von Geschichte, insbesondere auch von zeitgeschichtlichen Zusammenhängen, wie von kultureller Bildung.

In dem einen wie dem anderen Bereich gibt es allerdings, das will ich der guten Ordnung halber sagen, neben manchen ärgerlichen Befunden, auch manch erfreuliche Veränderungen zu betrachten. Deswegen bin ich da nach wie vor zuversichtlich, dass wir außer den ärgerlichen und gelegentlich geradezu grotesken Beispielen auch da zu Schlussfolgerungen kommen, die das für die Zukunft vermeiden helfen.

ZDF: In diesem Jahr hörten wir von erschreckend vielen Fällen von verwahrlosten, verhungerten oder gar getöteten Kindern, teilweise mitten in der Stadt, wie hier in Hamburg die kleine Jessica. Es gibt daher Bestrebungen, die sagen, Kinderrechte ins Grundgesetz. Sie sagen, Politik soll sich da raushalten.

Lammert: Nein, nicht Politik soll sich da raushalten. Wie schon gesagt: all das, was die Menschen ernsthaft beschäftigt, ist auch immer Gegenstand von politischer Auseinandersetzung und von politischem Handeln. Die Politik würde ja abdanken, wenn sie sich gegenüber solchen Themen abmelden wollte. Aber auch hier gilt, dass ein gut gemeinter Vorschlag nicht immer ein zielführender Vorschlag ist. Ich kann nicht erkennen, welchen praktischen Beitrag die Verankerung zusätzlicher Kinderrechte im Grundgesetz für die Vermeidung solcher dramatischen Ereignisse haben soll.

Ich mache im Übrigen nur darauf aufmerksam, dass wir in einigen Landesverfassungen solche ausdrücklichen Kinderrechtsklauseln haben. Es gibt überhaupt keinen statistischen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Kindesmisshandlungen oder Kindstötungen und verfassungsrechtlichen Bestimmungen. Das ist eine rein symbolische Geste und darin liegt aus meiner Sicht auch eher das Risiko. Auf diese Weise wird eher eine Problemlösung vorgetäuscht als ein wirklicher Beitrag zur Problemlösung geleistet.

ZDF: Sollten wir eher die Familien stärken oder sollte der Staat stärker eingreifen?

Lammert: Ganz sicher, die Familie ist unter vielerlei Gesichtspunkten geradezu die Schlüsselinstitution in einer Gesellschaft. Das gilt für moderne Gesellschaften nicht weniger als für die, die uns aus der Vergangenheit mehr oder weniger anschaulich vor Augen stehen. Hier hat es auch in einer falsch verstandenen Vorstellung von Modernität eine Vernachlässigung gegeben, die sich in einer unangenehmen Weise bemerkbar macht. Deswegen unterstütze ich mit Nachdruck alle Bemühungen, die auch hier zu einer Trendveränderung beitragen können.

Quelle: zdf.de, 1.1.2008