Machtprobe mit dem Militär: Der türkische Außenminister Gül wird erneut für das Präsidentenamt kandidieren. Das ist ein Fehler - der für das Land fatale Folgen haben könnte.
Ein Kommentar von Peter Lindner
Das Grollen der Generäle hallt noch immer nach. Ihre indirekte Putschdrohung nach der erstmaligen Präsidentschaftskandidatur von Außenminister Abdullah Gül im April löste in der Türkei ein politisches Beben aus.
Gül musste wegen des Widerstands des regierungsfeindlichen Lagers seinen Rückzug erklären, die Parlamentswahlen wurden vorgezogen. Doch auch nach dem überwältigenden Sieg der islamisch-konservativen AKP von Premier Tayyip Erdogan und seinem Freund Gül ist die Krise nicht ausgestanden, im Gegenteil: Sie droht sich weiter zu verschärfen.
Gül gab an diesem Dienstag bekannt, dass er bei den Präsidentschaftswahlen am 20. August erneut antreten werde. Er und seine Partei, die ihn nominiert hat, gehen damit ein hohes Risiko ein. Neue Spannungen mit der Armee sind programmiert. Es besteht die Gefahr, dass die Krise eskaliert. Mit einer Kandidatur tut Gül somit in erster Linie sich selbst einen Gefallen, seinem Land schadet er.
Unter Islamismusverdacht
Die AKP wollte Gül bereits im Mai zum Präsidenten küren, bevor ein vereinter Block aus Armee, Opposition und Verfassungsgericht die Wahl sabotierte. Güls Gegner waren der Auffassung: Ein Mann, der seine Wurzeln im politischen Islam hat und dessen Frau ein Kopftuch trägt, habe im Präsidentenpalast nichts zu suchen. Gül sei eine Bedrohung für das säkulare Fundament der Republik. Seine Kritiker unterstellen ihm eine heimliche Agenda für die islamistische Unterwanderung der Türkei.
Den fulminanten Sieg der AKP bei den Parlamentswahlen im Juli begründeten Beobachter unter anderem mit der Verärgerung vieler Wähler über die Einmischung des Militärs. Insofern war das Resultat eine schallende Ohrfeige für die Streitkräfte - und ein Indiz dafür, dass ihr Rückhalt in der Bevölkerung geschwunden ist. Ein Putsch ist trotzdem nicht ausgeschlossen. Auch wenn er nach dem jüngsten Votum des Volkes unwahrscheinlicher geworden ist.
Wächter über Atatürks Erbe
Das Militär versteht sich zuallererst als Hüter des Erbes von Republikgründer Kemal Atatürk. Zwei Prinzipien sind es vor allem, die aus Sicht der regierungskritischen Kemalisten unbedingt unangetastet bleiben müssen: die Einheit von Nation und Staat sowie der Laizisimus, die Trennung von Staat und Kirche. Sieht das Militär diese Grundsätze ernsthaft bedroht, muss man mit einem Einschreiten rechnen. Egal, ob die Mehrheit des Volkes diesen Schritt mitträgt oder nicht.
Die abermalige Kandidatur Güls deutet darauf hin, dass die AKP nach ihrem haushohen Wahlsieg ihre neu errungene Machtposition überschätzt. Jetzt eine Kraftprobe mit dem Militär zu wagen ist unnötig und falsch. Eine neuerliche Nominierung Güls wird die Armeeführung als Provokation empfinden - und als Gesichtsverlust.
Es ist schwer vorstellbar, dass sie dies ohne Gegenreaktionen langfristig hinnimmt. Nach dem Wahlsieg der AKP müssen die Generäle aber vorsichtiger agieren. Ein militärischer Überraschungscoup ist deshalb vorerst wohl nicht zu befürchten.
Die Streitkräfte werden die Aktivitäten der AKP-Regierung und des Staatschefs aber argwöhnisch beäugen, auch wegen der Rolle des Präsidenten im politischen System: Er ist Oberbefehlshaber der Armee und ernennt den Generalstabschef auf Vorschlag des Kabinetts. Außerdem verfügt er beim Gesetzgebungsprozess über ein aufschiebendes Vetorecht und wirkt auch bei der Besetzung hoher Positionen im Staatsapparat, wie in der Justiz, mit. Das bedeutet: Der Präsident hat mehr Macht als dem Militär lieb ist.
Konfrontation statt Kompromiss
Angesichts der politischen Risiken hätte es die politische Vernunft geboten, jetzt nicht die Konfrontation, sondern den Kompromiss zu suchen. Die Türkei und die AKP stünden mit einem tragbaren Alternativkandidaten besser da - auch wenn so mancher Parteigänger dies als "Einknicken vor dem Militär" gegeißelt und Erdogans Partei Anhänger verloren hätte. Das wäre verschmerzbar gewesen.
Denn bei Skeptikern hätte die AKP Vertrauen dazugewonnen, und damit langfristig auch neue Wählerstimmen. Die Nominierung eines Kompromisskandidaten wäre zudem ein weiterer Beleg dafür gewesen, dass es der AKP nicht um ideologische Ziele, sondern um die Stabilität und damit das Wohl des Landes geht.
Ein Kompromiss wäre ein Signal der Versöhnung gewesen - und ein erster Schritt, die tiefe Spaltung des Landes zu überwinden. Auch im Hinblick auf die Lösung der Probleme mit der terroristischen PKK - die Streitkräfte plädieren hier für massive militärische Schritte - ist es alles andere als dienlich, wenn sich Staatsführung und Armee geradezu feindlich gegenüberstehen.
Besorgnis dürfte sich auch in der EU breit machen: Mit der Nominierung Güls wird es sehr schwierig, den politischen Einfluss des Militärs zurückzudrängen. Noch immer spielt die Armee eine Sonderrolle und ist nicht gewillt, diese aufzugeben – vermutlich erst recht nicht unter einem Präsidenten Gül.
Trotzdem gilt: Der große Einfluss des Militärs in der Türkei ist eine demokratische Anomalie, die nicht länger akzeptiert werden darf. Auch nicht von der Europäischen Union. Die Generäle müssen einer wirksamen zivilen Kontrolle unterstellt werden. Solange die Verfassung, die auf den Putsch aus dem Jahr 1980 zurückgeht, die Armee als den Garanten des kemalistischen Erbes legitimiert, wird sich diese im Ernstfall als Retter der Nation aufspielen.
Und, auch das sollten sich Erdogan und Gül stets vor Augen führen: Den Ernstfall definieren die Generäle.
(sueddeutsche.de, 14.08.2007)