Die Unabhängigkeit des Kosovo wirft mehr Fragen auf, als sie löst. Die Hilflosigkeit der Europäischen Union ist spürbar. Selbst ein EU-Beitritt Serbiens würde nicht weiterhelfen. Ein Interview mit Marie-Janine Calic, Professorin für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilian Universität in München
ZEIT Online: Das Kosovo ist ein neuer Staat mit neuen Problemen – oder sehen Sie es gelassener?
Marie-Janine Calic: Eigentlich nicht. Das hat mehrere Gründe. Einige liegen an in der Region selbst: Serbien und die Kosovo-Serben haben diese Unabhängigkeit nicht anerkannt und werden sie nicht anerkennen. Die Kosovo-Serben haben deutlich gesagt, dass sie bei Serbien verbleiben wollen. Damit entsteht in der Region was man einen „eingefrorenen Konflikt“ nennt.
Zudem wird die Souveränität Kosovos auf längere Zeit durch eine starke militärische und zivile internationale Präsenz noch eingeschränkt bleiben. Der Zugang zu internationalen Organisationen wird blockiert sein, nicht zuletzt wegen des Widerstandes Russlands. Es wird zu erheblichen Frustrationen bei den Kosovaren kommen und sie werden sich gegen diejenigen richten, die am Ort sind – sprich gegen die EU.
ZEIT Online: Beim Treffen der EU-Außenminister am Montag hat sich abermals Europas Ratlosigkeit gezeigt. Es gibt keinerlei Einstimmigkeit, in der Frage, wie man sich gegenüber dem Kosovo verhalten soll.
Calic: Es ist in der Tat für alle ein Problem. Die EU hat keine gemeinsame Linie in der Kosovo-Politik gefunden und ebenso gegenüber Serbien. Offen ist, ob man Belgrad zur Kompensation für die Wegnahme Kosovos eine raschere EU-Annäherung anbieten sollte. Diese undeutliche Haltung hat auch Auswirkungen auf die EULEX-Mission, die von der EU ins Land geschickt wird, obwohl dafür ein eindeutiges Völkerrechtsmandat fehlt. Das stellt allerdings die Kompetenz und Effizienz der Mission in Frage.
ZEIT Online: Würden Sie sagen, die Unabhängigkeit ist verfrüht?
Calic: Der große Zeitdruck, unter den man sich gesetzt hat, war nicht hilfreich. Seit den Unruhen 2004 hat der Westen auf die Unabhängigkeit Kosovos hingearbeitet. Alle Bedenken wurden beiseite geschoben. Nicht zuletzt hat man verdrängt, dass Russland diese Politik nicht mittragen würde. Dies führt jetzt zu einer sehr problematischen Situation, denn es gibt eine Blockade im UN-Sicherheitsrat. Die völkerrechtliche Legitimität des unabhängigen Staates Kosovo ist sehr umstritten.
ZEIT Online: Moskau stellt sich hinter Serbien, aber in der Praxis unterstützt Belgrad wenig. Wie bewerten Sie Russlands Strategie auf dem Balkan?
Calic: Die Russen sind aufgebracht, weil sie in dieser einseitigen Unabhängigkeitserklärung einen Völkerrechtsbruch sehen, und darüber hinaus einen Angriff auf das System der internationalen Ordnung, das sich seit dem Ende des zweiten Weltkriegs etabliert hat. Moskau fürchtet einen Domino-Effekt in den abtrünnigen Regionen von Abkhazien oder Süd-Ossetien, gleichzeitig aber erklärt es, in Georgien niemanden zu ermuntern.
Russland nutzt die Situation um wirtschaftlich stärker in der Region Fuß zu fassen, vor allem durch die Energiepolitik. Das heißt jedoch nicht, dass Moskau bedingungslos auf der Seite Serbiens stehen wird.
ZEIT Online: Sie haben von Kompensationen aus Sicht der EU gesprochen. Ist es wirklich vorstellbar, dass Serbiens EU-Annäherung beschleunigt wird?
Calic: Einige Staaten, darunter Deutschland, halten dies für sinnvoll, um Serbien einzubinden und zu signalisieren, dass das Land nicht nur bestraft und isoliert wird, sondern dass die EU auch einen Schritt auf es zugeht. Aber es gibt Staaten, vor allem Großbritannien und die Niederlande, die sich dem widersetzen, mit Hinweis auf die Konditionalität und auf die mangelhafte Zusammenarbeit Belgrads mit dem Kriegsverbrecher-Tribunal in den Haag. Solange diese Länder nicht beschwichtigt sind, wird sich in dieser Hinsicht gar nichts tun. Abgesehen davon wackelt in Belgrad die Regierung. Der Ministerpräsident Kostunica wird keinen Schritt auf die EU zumachen, da er glaubt, sonst die Unabhängigkeit Kosovos indirekt anzuerkennen. Die politischen Hindernisse liegen also auf beiden Seiten.
ZEIT Online: Würde ein schneller EU-Beitritt von Serbien diesen "eingefrorenen Konflikt" überwinden können?
Calic: Die EU-Mitgliedschaft würde nicht alle Probleme lösen. Man braucht nur nach Zypern zu blicken, um festzustellen, dass auch die Mitgliedschaft Zyperns den Zypernkonflikt nicht beigelegt hat. Es gibt eine Qualität von Konflikten – gerade die, die sehr stark an Identität, Nationwerdung und Staatenbildung heranreichen – die durch die EU-Integration nicht gelöst werden können.
ZEIT Online: Nicht gelöst, aber vielleicht entschärft.
Calic:Sagen wir mal so: Die Mitgliedschaft schafft andere Prioritäten. Wenn die EU-Perspektive konkreter wird, dann stellen sich in den wirtschaftlichen, institutionellen, rechtlichen Bereichen andere Aufgaben. Andere Wertigkeiten kommen ins Spiel. Zwar kann man immer wiederholen, ein Land nicht anerkennen zu wollen, jedoch gleichzeitig eine pragmatische Politik treiben. Das ist es eigentlich, was der serbische Präsident Tadic im Sinn hat. Die Frage ist eher von der EU-Seite: Will man das ohnehin nicht ganz unkomplizierte institutionelle Gefüge der EU noch zusätzlich durch einen Konflikt belasten?
ZEIT Online: Ein militärischer Konflikt ist aus Ihrer Sicht nicht zu befürchten?
Calic: Das haben alle Beteiligte ausgeschlossen – selbst Serbiens Radikale. Ein militärischer Konflikt könnte für Serbien politisch und militarisch nur im Desaster enden. Belgrad wird nun die legalen Mittel ausschöpfen, um die Umsetzung der neuen Kosovo-Politik zu torpedieren. Zu erwarten sind auch wirtschaftliche Strafmaßnahmen, wie die Unterbrechung von Stromlieferungen. Kosovo bezieht bis zu 45 Prozent seines Stroms aus Serbien – die Störung der Handelbeziehungen oder die Einschrenkung der Reisefreiheit. Belgrad wird auch möglichst in jedem internationalen Gremium einen Kosovo-Sitz verhindern.
ZEIT Online: Welche Möglichkeiten hat das Kosovo, sich wirtschaftlich zu entwickeln, abgesehen von den Finanzspritzen des Internationalen Währungsfonds?
Calic: Die Wirtschaft ist in einer sehr schwierigen Situation. Das Pro-Kopf-Einkommen ist niedrig, die Arbeitslosigkeit hoch, ebenso das Aussenhandeldefizit. Die Industrie ist in einem schlechten Zustand. Die Kosovaren hoffen, ihre Rohstoffvorräte – Kohle, Blei, Zink und Kupfer – in der Zukunft besser ausbeuten zu können. Jedoch sind die Infrastrukturen veraltet und es fehlen Investitionen.
In Prishtina geht man davon aus, dass die Unabhängigkeit die ausländischen Investoren ins Land holen werden. Kosovo rechnet mit mindestens 2,5 Milliarden Euro, die im nächsten Jahr ins Land strömen werden. Allerdings sollte man nicht zu optimistisch sein. Solange schwache Institutionen vorherrschen, es keinen Rechtstaat gibt und Korruptions grassiert, ist das unternehmerische Risiko viel zu hoch.
Die Erwartungen sind meines Erachtens völlig überzogen und werden eine weitere Quelle der Frustration sein. Das Land wird noch lange von internationalen Hilfe abhängig bleiben.
ZEIT Online: Angesichts der angespannten Lage, war Kosovos Unabhängigkeit das kleinere Übel?Calic: In einem solchen tiefgreifenden Konflikt findet man keine schnelle Lösung, die sich gegen den Willen und mit Demütigung einer Partei oktroyieren lässt. Dies muss zwar nicht langfristig zu neuen militärischen Konflikten, wird aber sicherlich an vielen Stellen zu Friktionen führen. Und es wird auf sehr lange Zeit ein Thema in Serbien bleiben. Die Hauptgefahr ist, dass auf umstrittener völkerrechtlicher Grundlage ein neuer Zustand der Instabilität geschaffen wird.
Marie-Janine Calic ist Professorin für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilian Universität in München
Die Fragen stellte Alain-Xavier Wurst
Quelle: ZEIT online, 18.2.2008