Politiker von CDU und CSU beklagen sich lautstark über die Ergebnisse des SPD-Parteitags - während der Gewerkschaftsbund die Wiederentdeckung sozialdemokratischer Grundwerte lobt.
Die SPD hat nach Darstellung ihres neuen Vize-Vorsitzenden Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesparteitag in Hamburg keinen politischen Kurswechsel eingeleitet. "Von Linksruck kann keine Rede sein", sagte der Bundesaußenminister der in Hannover erscheinenden Neuen Presse. "Kurt Beck steht nicht für einen Linksruck der Partei. Er ist ein Pragmatiker und wird nicht zulassen, dass sich die SPD von ihrer Politik nah bei den Menschen verabschiedet und weg von der Mitte rückt."
Dagegen sieht Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Sozialdemokraten von ihrem bisherigen Kurs abrücken. "Wir nehmen zur Kenntnis, dass die SPD angesichts von weniger Mitgliedern und auch nicht zufriedenstellenden Umfragen sich gesagt hat: 'Wir machen einen solchen Linksruck'", sagte die CDU-Vorsitzende in der ZDF-Sendung "Berlin direkt“.
CSU-Chef Erwin Huber bescheinigte der SPD am Sonntagabend in der ARD einen "Linksdrall". Die SPD "bewegt sich von der Koalition weg", sagte er in der Sendung "Anne Will". Huber warf den Sozialdemokraten eine "Anbiederung" an die Linke vor. "Das Regieren wird härter und schwieriger, die SPD wird unberechenbarer und unzuverlässiger."
CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla kündigte im Kölner Stadt-Anzeiger an, dass die Union die Umsetzung zentraler Beschlüsse des Parteitages verhindern werde. "Die CDU wird dafür sorgen, dass die ganzen aufschwungfeindlichen Beschlüsse des SPD-Parteitags nie Regierungspolitik werden." Pofalla nannte den Beschluss für einen allgemeinen Mindestlohn von 7,50 Euro in der Stunde. Zur der vom Parteitag beschlossenen längeren Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für Ältere bekräftigte Pofalla die Forderung nach einer aufkommensneutralen Finanzierung.
Die hessische SPD-Vorsitzende Andrea Ypsilanti ging in der Hessisch/Niedersächsischen Allgemeinen davon aus, dass der Großen Koalition nun schwierige Verhandlungen bevorstehen.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, sprach von einem "inhaltlichen Neuanfang der SPD". Er sehe nach dem Hamburger SPD-Parteitag "eine neue strategische Hinwendung zu den sozialdemokratischen Grundwerten". Damit wende sich die Partei wieder den "klassischen SPD-Wählern" zu, sagte er der Berliner Zeitung. In der Frankfurter Rundschau mahnte er zugleich weitere Korrekturen an den Sozialreformen an. Die SPD müsse sich bis zur Bundestagswahl 2009 auch von der Rente mit 67 verabschieden. "Sonst wird es die SPD bei den Arbeitnehmern sehr schwer haben."
Der Linke-Vorsitzende Oskar Lafontaine wertete den SPD-Parteitag in der ARD-Sendung "Anne Will" als "Versuch einer Kurskorrektur". Er verwies vor allem auf den SPD-Beschluss zum Arbeitslosengeld für Ältere. Lafontaine kritisierte zugleich, dass die SPD keine Antwort auf die Fragen gebe, die die Menschen wirklich bewegten. "Die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland spürt vom Aufschwung nichts." Dem Berliner Tagesspiegel sagte Lafontaine: "Ohne die Linkspartei hätte Beck die bescheidenen Korrekturen, die die SPD jetzt beschlossen hat, nicht ins Auge gefasst."
Zahlreiche Sozialdemokraten begrüßten die Ergebnisse des Parteitages. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) sagte, die Sozialdemokraten hätten nun als Erste ein Programm, das Antworten auf die Fragen der politischen und ökonomischen Globalisierung gebe. Niedersachsens SPD-Spitzenkandidat Wolfgang Jüttner sprach von einem "Schub" der SPD für die Landtagswahl in drei Monaten. "Das soziale Profil der SPD ist bestätigt und bestärkt worden", sagte er. Sachsen-Anhalts SPD-Chef Holger Hövelmann sagte, er erwarte vom in Hamburg verabschiedeten Grundsatzprogramm "Schwung nach innen und außen".
Quelle:
sueddeutsche.de 29. Oktober 2007
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Montag, 29. Oktober 2007
Gefühlte Geschlossenheit
Allen Provokationen, Sticheleien und Revanchefouls zum Trotz: Dieser SPD-Parteitag hat der Großen Koalition als Ganzes gut getan. Jedenfalls für den Moment.
Ein Kommentar von Nico Fried
Was hilft der Kanzlerin ein Partner, der sich selbst zerlegt? Eine SPD, die nur am schwarz-roten Zwangsbündnis leidet, die sich nicht entscheiden kann zwischen Illusion und Realität und die im Abwärtstaumel keine Richtung findet - eine solche SPD würde die Regierung insgesamt blockieren.
Kurz vor einer Bundestagswahl würde Angela Merkel das sicher lustig finden. Zur Mitte der Legislaturperiode ist es eher lästig. Einstweilen haben sich die Sozialdemokraten berappelt, ihr Vorsitzender reist gestärkt aus Hamburg ab; jedenfalls ist dies ein weit verbreiteter Eindruck in der SPD.
Und eine Partei, die ihre Politik nicht zuletzt an gefühlten Ungerechtigkeiten ausrichtet, gibt sich auch mit einer gefühlten Geschlossenheit zufrieden. Fürs Erste hat die SPD auf ihrem Parteitag den Verdruss an sich selbst überwunden. Man sollte das nicht unterschätzen.
Die Basis hat erkannt, dass ihre Minister keine Monster sind - auch weil namentlich Müntefering, Steinmeier und Gabriel den Delegierten sehr deutlich gemacht haben, wie stark die SPD im Vergleich zur Union personell wie inhaltlich in der Koalition vertreten ist.
Und Kurt Beck, der bislang die personifizierte Unentschlossenheit zwischen Regieren, Opponieren und Profilieren war, hat erstmals gezeigt, dass es ihm gelingen könnte, die Partei im Land und ihre Vertreter in Berlin zusammenzuhalten.
Auch wenn der SPD-Chef sich zuletzt einseitig positionierte, so hat ihm der Vizekanzler doch eindrucksvoll demonstriert, dass man auf Dauer beide Teile braucht. Und eigentlich weiß Beck das ja auch.
Verlorengegangen ist in Hamburg nur die Bahnreform. Hier aber handelt es sich um ein Versagen der gesamten Koalition. Niemand hat die Privatisierung der Bahn jemals zu einem wirklichen Anliegen gemacht: zu viel Überzeugungsarbeit, zu anstrengend, zu riskant.
Ansonsten aber hat die SPD auf dem Parteitag ihre Prioritäten vor allem in der Sozialpolitik sehr offensiv benannt und macht sich nun daran, Angela Merkel zu stellen. Mindestlohn, Arbeitslosengeld, Leiharbeit: Die Karten liegen auf dem Tisch.
Das ist gut für die Koalition, weil sie nun wieder konkrete Politik machen kann, statt sich in Scheingefechten zu verlieren. Es ist gut für die Union, weil sie nicht in Versuchung gerät, sich allein auf die Popularität Merkels zu verlassen und bis 2009 im Leerlauf dahinzurollen.
Wenn die Kanzlerin allerdings glaubt, es werde genügen, viele der SPD-Forderungen nur als einen Linksruck zu werten, der ihr die politische Mitte überlässt, wird sie verlieren. Auch sie wird jetzt einmal hinstellen und klarmachen müssen, warum zum Beispiel manche gefühlte Gerechtigkeit auch neue Ungerechtigkeit produzieren kann. Die SPD hat gesprochen. Zu langes Schweigen wird Merkel sich nicht leisten können.
Quelle:
Süddeutsche Zeitung 29. Oktober 2007
Ein Kommentar von Nico Fried
Was hilft der Kanzlerin ein Partner, der sich selbst zerlegt? Eine SPD, die nur am schwarz-roten Zwangsbündnis leidet, die sich nicht entscheiden kann zwischen Illusion und Realität und die im Abwärtstaumel keine Richtung findet - eine solche SPD würde die Regierung insgesamt blockieren.
Kurz vor einer Bundestagswahl würde Angela Merkel das sicher lustig finden. Zur Mitte der Legislaturperiode ist es eher lästig. Einstweilen haben sich die Sozialdemokraten berappelt, ihr Vorsitzender reist gestärkt aus Hamburg ab; jedenfalls ist dies ein weit verbreiteter Eindruck in der SPD.
Und eine Partei, die ihre Politik nicht zuletzt an gefühlten Ungerechtigkeiten ausrichtet, gibt sich auch mit einer gefühlten Geschlossenheit zufrieden. Fürs Erste hat die SPD auf ihrem Parteitag den Verdruss an sich selbst überwunden. Man sollte das nicht unterschätzen.
Die Basis hat erkannt, dass ihre Minister keine Monster sind - auch weil namentlich Müntefering, Steinmeier und Gabriel den Delegierten sehr deutlich gemacht haben, wie stark die SPD im Vergleich zur Union personell wie inhaltlich in der Koalition vertreten ist.
Und Kurt Beck, der bislang die personifizierte Unentschlossenheit zwischen Regieren, Opponieren und Profilieren war, hat erstmals gezeigt, dass es ihm gelingen könnte, die Partei im Land und ihre Vertreter in Berlin zusammenzuhalten.
Auch wenn der SPD-Chef sich zuletzt einseitig positionierte, so hat ihm der Vizekanzler doch eindrucksvoll demonstriert, dass man auf Dauer beide Teile braucht. Und eigentlich weiß Beck das ja auch.
Verlorengegangen ist in Hamburg nur die Bahnreform. Hier aber handelt es sich um ein Versagen der gesamten Koalition. Niemand hat die Privatisierung der Bahn jemals zu einem wirklichen Anliegen gemacht: zu viel Überzeugungsarbeit, zu anstrengend, zu riskant.
Ansonsten aber hat die SPD auf dem Parteitag ihre Prioritäten vor allem in der Sozialpolitik sehr offensiv benannt und macht sich nun daran, Angela Merkel zu stellen. Mindestlohn, Arbeitslosengeld, Leiharbeit: Die Karten liegen auf dem Tisch.
Das ist gut für die Koalition, weil sie nun wieder konkrete Politik machen kann, statt sich in Scheingefechten zu verlieren. Es ist gut für die Union, weil sie nicht in Versuchung gerät, sich allein auf die Popularität Merkels zu verlassen und bis 2009 im Leerlauf dahinzurollen.
Wenn die Kanzlerin allerdings glaubt, es werde genügen, viele der SPD-Forderungen nur als einen Linksruck zu werten, der ihr die politische Mitte überlässt, wird sie verlieren. Auch sie wird jetzt einmal hinstellen und klarmachen müssen, warum zum Beispiel manche gefühlte Gerechtigkeit auch neue Ungerechtigkeit produzieren kann. Die SPD hat gesprochen. Zu langes Schweigen wird Merkel sich nicht leisten können.
Quelle:
Süddeutsche Zeitung 29. Oktober 2007
Die Pflicht zur Kür
SPD-Parteitag in Hamburg
Kurt Beck zeigt sich als guter Taktiker und stärkt seine Rolle als Vorsitzender, doch der Jubel gehört Franz Müntefering – dank seiner fulminanten Rede.
Eine Reportage von Kurt Kister, Hamburg
Wenn Kurt Beck spricht, muss man an eine Barke denken, die auf dem Fluss Lethe, dem Wasser des Vergessens, fährt. "Es gibt keine vernünftige Alternative zu unserer Überzeugung, ich glaube, dass man das auch objektiv so feststellen kann, zum friedfertigen Ringen der Völker um ein Miteinander..." Zwar fliegt der Kugelschreiber übers Papier, aber er kann die vielen Floskeln, die der SPD-Chef aneinanderfügt, nicht festhalten, jedenfalls nicht in einer sinnvollen Reihe.
Sie verschwimmen ineinander, man weiß nicht, wohin die Barke fährt. Bevor man sich aber verliert im Nebel dessen, was Beck, Zettels Albtraum, auf seinen Karteikarten notiert hat, spricht er wieder einen dieser Sätze, die wahr sind und gleichzeitig so entsetzlich schlicht: "Menschen sind mit ihren Stärken und Schwächen Individuen."
Jawoll. Ganz richtig. Einige im Plenum klatschen, denn es könnte ja sein, dass dieser Satz, gesprochen am Sonntag im Hamburger Kongresszentrum, eine tiefere Bedeutung hat, die man nur eben nicht erkennen kann, weil sich die Rede Becks zum SPD-Grundsatzprogramm ja gerade noch entwickelt.
Eigentlich entwickelt sich diese Rede die ganze Zeit, sie ist nicht, wie es im Englischen so schön heißt, work in progress, also Arbeit in der Entwicklung, sondern eher progress in progress, also Entwicklung in der Entwicklung. Als Kurt Beck am Ende angekommen ist, sind alle froh: Er selbst, weil er erkältet ist und es ihm vermutlich auch reicht; die Delegierten, weil man am Ende einer Rede immer klatschen kann; die Journalisten, weil sie jetzt aufhören können, Becks Wortkaskaden aufzuschreiben und sie dann wieder durchzustreichen, weil sich ihr Sinn während des Sprechens beziehungsweise des Schreibens verflüchtigt hat.
Etwas aus der Bahn
Dieser Parteivorsitzende, soviel steht am Ende des Parteitages in Hamburg fest, ist ein guter Taktiker, der gleichzeitig links und rechts ist, so wie sein Zweireiher eben auch zwei Knopfreihen hat. Er hat ein ziemlich sicheres Gefühl für die Stimmung in seiner Partei, das er allerdings öffentlich nur schlecht ausdrücken kann.
Er ist nämlich ein wirklich schlechter Redner, was nur dadurch etwas kompensiert wird, dass Reden auf Parteitagen von Delegierten oft anders eingeschätzt werden als von Politprofis und Journalisten. Während der Delegierte sagt, Beck habe doch in seiner endlosen Rede am Freitag alles angesprochen, sagt der Journalist, erstens sei genau das das Problem, und zweitens habe er sich nicht zur bemannten Weltraumfahrt geäußert. Dann dreht sich der Delegierte um und ist böse.
Kurt Beck sitzt einer Partei vor, in der zumindest viele Delegierte, also die Aktivsten der Organisierten, wieder weiter nach, nun ja, "links" wollen, zumindest dahin, wo man sich einig über seine Gegner ist: die Neoliberalen, aber auch George Bush, Oskar Lafontaine und Michael Glos, dann alle mit dicken, schnellen Dienstwagen und außerdem natürlich Mehdorn sowie Mindestlohnunterschreiter.
Wenn man schon etwas länger im politischen Geschäft ist, konnte man sich vom Hamburger Parteitag an die achtziger Jahre erinnert fühlen. Damals war die Partei links und ziemlich grün, viele wollten von der verflossenen SPD-Kanzlerschaft nicht mehr sehr viel wissen. Im Prinzip ist das heute bei vielen Delegierten wieder so, und vielleicht haben sie gerade deswegen an diesem Wochenende wieder ein Tempolimit 130 beschlossen, obwohl bei der SPD Tempo 100 schon seit 1985 Beschlusslage der Partei ist. "Ich merkwürdiger Pedant", erinnert sich der Parteiveteran Hans-Jochen Vogel am Sonntag in einer Rede, "bin damals ein paar Monate lang mit dem Dienstwagen nur 100 gefahren."
Im Laufe des Parteitags, genauer gesagt am Samstagnachmittag, erweist sich zweierlei: Zum einen kann man beobachten, dass Kurt Beck zwar, demosthenesmäßig gesehen, ein schlechter Redner, dafür aber ein geschickter, möglicherweise sogar führungsstarker Parteichef ist.
Zum anderen hat Franz Müntefering, der Pflichtmensch aus dem Sauerland, einen Auftritt, der wieder einmal beweist, wie schade es für die SPD ist, dass Müntefering damals im Herbst 2005 wegen der täppischen Verschwörer um Andrea Nahles den Parteivorsitz niedergeworfen hat. Beck ist ein gewiefter Gremienlenker. Müntefering aber ist der beste Parteivorsitzende, den die SPD nicht hat.
Der Reihe nach und mit Becks Qualitäten beginnend. Die erweisen sich an jenem Thema, von dem in Hamburg alle sagten, es sei nach dem entschiedenen Streit zwischen Beck und Müntefering um die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes der einzig verbliebene wirkliche Konflikt. Es geht um die Bahn, genauer gesagt um den Unmut der Mehrheit der Sozialdemokraten, einen Teil der Bahnaktien an private Investoren, auf Münteferingsch: an Heuschrecken, zu verkaufen.
Die Sozen haben sich bekanntlich schon vor dem Parteitag nach langem, intensivem Streit auf einen Kompromiss geeinigt, den Bahnchef Mehdorn für Blödsinn hält, der im Steinbrück-Lager immer noch Augenrollen hervorruft und den die Union mehrheitlich ablehnt: Ein Viertel der Aktien soll als sogenannte stimmrechtslose Vorzugsaktien ("Volksaktien") unter die Menschen, und zwar Kleinanleger, gestreut werden. Dies soll der Bahn frisches Geld sowie dem Volk relativ risikolose Aktien bringen, streckenstilllegende Investoren draußen halten und die Rolle der öffentlichen Hand als einzig relevantem Eigentümer des "Kulturgutes Bahn" sichern.
Als die Debatte über die Bahnprivatisierung im Plenum beginnt, wird schnell klar, dass da Unheil dräut. Zum einen hat sich der Parteitag vorher mit zwei für die Realpolitik vermutlich relativ irrelevanten, dafür aufregungsträchtigen Voten für ein Tempolimit 130 und gegen die steuerliche Absetzbarkeit dicker Dienstwagen schon mal kleinrevolutionär warmgestimmt. Beides sah die Antragskommission, ein den Parteitag bis zu einem gewissen Grad mitsteuerndes Gremium, so nicht vor.
Beides aber machte vielen Delegierten, mal abgesehen von der Ökologie, auch ein gutes Gefühl, weil es ja zum Beispiel auch nicht angehe, wie eine Rednerin im Juso-Alter schimpfte, dass die Abgeordneten sich immer allein zum Flughafen Tegel fahren ließen und somit "in Berlin die Luft verpesten". Und ein Tempolimit ist in Deutschland sowieso stets ein sicheres Aufregerthema, so dass es egal ist, dass eine Geschwindigkeitsbegrenzung nicht mal von der verstorbenen rot-grünen Regierung verwirklicht worden ist.
Es brodelt also, als die Bahn aufgerufen wird. Keiner der ersten zehn Redner spricht gegen das Volksaktien-Modell. Dafür wollen etliche die Parteispitze und die Minister auf ein Alles oder Nichts verpflichten: Wenn das Volksaktien-Modell mit der Union nicht zu machen ist, so heißt es in einem Änderungsantrag, dann solle die SPD eben jedwede Privatisierung der Bahn ablehnen. Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee spricht sich in einer recht lahmen Rede gegen diese Verknüpfung aus.
Der Juso-Chef Björn Böhning dagegen erhält viel Beifall, als er dieses Junktim begründet. Noch mehr Beifall gibt es für den Altlinken Peter Conradi, der überhaupt nicht will, dass die Bahn privatisiert wird, nicht einmal mit einer Volksaktie. "Wenn für Investitionen Geld gebraucht wird", ruft Conradi, "dann soll man eben eine Anleihe mit viereinhalb Prozent Zinsen auflegen." Neue Staatsverschuldung für die "Bürgerbahn" kommt gut an bei etlichen Delegierten, während Finanzminister Peer Steinbrück mit leicht verkniffenem Mund intensiv in seine Handflächen blickt, so als stünde da geschrieben: "Lauter Verrückte."
Die Stimmung ist eindeutig im Saal: 20 Redner stehen noch auf der Liste, die der Tagungspräsident Olaf Scholz führt. Wenn es so weitergeht, wird der Parteitag mit einer Mehrheit von 70 oder 80 Prozent das Junktim - Privatisierung nur mit Volksaktie oder gar keine Privatisierung - beschließen.
Das will die Parteispitze nicht, die Minister wollen es nicht, und auch der Parteichef Beck mag es nicht, weil es ihm keinerlei Verhandlungsraum ließe mit den Schwarzen und Angela Merkel. Also schnauft Beck, steht von seinem Platz am Podium auf und schiebt sich zum Rednerpult. Dort stellt er auf eine rhetorisch etwas verschwiemelte, also typisch Beck’sche Art die Vertrauensfrage.
Sieg und Niederlage in einem
Er wolle "den Anderen" das SPD-Konzept mit der Volksaktie vorstellen, erklären, mit ihnen reden. Wenn die aber was anderes wollten, dann müsse er schon die Möglichkeit haben, das erst mal zu beurteilen, zu beraten... "Nein", rufen ein paar im Plenum, "nein, nein!" Jetzt wird Beck fuchtig: "Lasst mich doch bitte wenigstens zu Ende sprechen. Ich bin mittendrin", schimpft er, "das erwarte ich, bevor ihr ,nein’ ruft."
Starke Unruhe.
Beck fährt fort, liest von einem Zettel einen kompliziert formulierten Satz ab, der im Prinzip darauf hinausläuft, dass der Parteivorstand im Falle der Ablehnung des "Modells der stimmrechtslosen Vorzugsaktie" durch den Koalitionspartner sich mit etlichen Parteigremien sowie sonstigen Beteiligten beraten und "jedwede vorgeschlagene Lösung beurteilen" darf.
Das Urteil soll dann dem nächsten Parteitag zur Entscheidung vorgelegt werden. "Ich habe die herzliche Bitte an Euch," ruft der tags zuvor mit 95 Prozent gekürte Parteichef, "dass dem neu gewählten Parteivorstand soviel Vertrauen entgegengebracht wird..."
Als Tagungspräside Scholz den Vorschlag seines Chefs zur Abstimmung bringt, gibt es eine einzige maue Gegenrede und nur erstaunlich wenig Gemurre. Nicht alle haben verstanden, was Beck genau will, etliche haben den komplizierten Wortlaut nicht richtig mitgekriegt. Aber fast jeder versteht, was Beck da tut: Der Parteichef will eben nicht auf Alles oder Nichts festgelegt werden, und weil er das öffentlich gemacht hat, würden sie ihn vielleicht irreparabel beschädigen, wenn sie es ihm nun doch aufdrückten.
Dann käme mit Macht die Debatte wieder, dass Beck zu schwach ist, und die SPD fiele tief in den Keller und ... Also heißt der Parteitag mit großer Mehrheit seine freundliche Erpressung durch den Parteichef gut. Kurt Beck hat gewonnen, weil er auf Risiko gespielt hat. Er hat aber auch verloren, weil die Regierungs-SPD, das eine Lager in der Partei, eigentlich für eine Bahn-Privatisierung ist, wohingegen die Oppositions-SPD, die stärker auf diesem Parteitag ist, sie ablehnt. Und so wie es jetzt aussieht, ist die Privatisierung nun tot oder zumindest komatös.
Etwas später sieht Beck definitiv nicht mehr führungsstark aus. Franz Müntefering musste sich, wie ausführlich berichtet, Beck beugen, als der relativ überraschend befand, dass man das Arbeitslosengeld I länger auszahlen solle, als dies die Agenda 2010 vorsieht und der Arbeitsminister Müntefering es für gut heißt.
Müntefering schluckte den Ärger hinunter, wie es meistens seine Art ist. Als er allerdings auf dem Parteitag den Leitantrag mit dem schönen Titel "Gute Arbeit" vorstellt, leistet Müntefering auf seine Weise ziemlich gute Arbeit.
Onkel Herberts guter Rat
Er hält eine fulminante Rede, in der es um den Mindestlohn, die soziale Gerechtigkeit, die Managergehälter und ähnliches mehr geht - lauter Dinge, die die Partei aufregen und in denen sich die Delegierten eins wissen mit Müntefering, und der eins ist mit der Partei.
Immer wieder wird er von Jubel unterbrochen, und zwar nicht von jener Art Pflichtjubel, der Beck bei seiner drögen Gemischtwarenrede am Tag zuvor gezollt worden war. Der Vizekanzler, der von den Freunden der Gerechtigkeit in seiner eigenen Partei ein paar Wochen lang nur als der Agenda-Knecht wahrgenommen worden war, redet sich zurück in alle Herzen.
Und es gibt jene wunderbaren Müntefering-Gemeinheiten, die man erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennen kann. Da lobt er den ehemaligen Arbeitsminister Walter Riester, der auch auf dem Parteitag ist und den jeder nur fragen solle, weil der alles wisse und es auch noch erklären könne.
Die Leute jubeln über Münte und Riester, und die Gemeinheit liegt darin, dass Riester jedem, der ihn danach fragt, ausführlich erklärt, warum es falsch sei, das Arbeitslosengeld I länger auszubezahlen, so wie es Beck initiiert und der Parteitag beschlossen hat.
Zum Schluss seiner Rede erzählt Müntefering dann noch eine seiner beliebten Wehner-Anekdoten, die man kennt, wenn man Müntefering kennt, obwohl er sie immer wieder so erzählt, dass man den Eindruck haben kann, jetzt höre man sie wieder mal zum ersten Mal.
Diesmal ist es die Geschichte, wie der junge Abgeordnete Müntefering zum altvorderen Fraktionschef Onkel Herbert gekommen sei, um diesem zu erklären, wie er die Welt verändern wolle. Der Onkel habe erst nichts gesagt, seine Pfeife gekaut und dann hervorgepresst: "Fang mal an. Aber pass auf, dass du nicht vertrocknest."
Und dann wird Müntefering noch etwas lauter und ruft in den begeisterten Saal: "Ich wollte nur sagen, es ist noch was da. Ich bin noch nicht vertrocknet."
Tosender Beifall, der sich überschlägt. Müntefering geht zurück auf seinen Platz, vorbei an Beck, der so eine Rede, die aus dem Herzen kommt und ins Herz der Partei trifft, niemals hinkriegen wird. Und weil der Saal gar nicht aufhören will zu toben, läuft Müntefering noch einmal nach vorn ans Pult, und dabei nimmt er Kurt Beck mit.
Die beiden stehen da, Beck überspült von Münteferings Jubel. Wäre man garstig, könnte man denken, dass das eine sehr subtile Form der nahezu patriarchalischen Rache ist, wie Müntefering seinen Parteichef da in einer Begeisterung baden lässt, die Beck selbst nicht erzeugen kann.
Quelle:
Süddeutsche Zeitung 29. Oktober 2007
Kurt Beck zeigt sich als guter Taktiker und stärkt seine Rolle als Vorsitzender, doch der Jubel gehört Franz Müntefering – dank seiner fulminanten Rede.
Eine Reportage von Kurt Kister, Hamburg
Wenn Kurt Beck spricht, muss man an eine Barke denken, die auf dem Fluss Lethe, dem Wasser des Vergessens, fährt. "Es gibt keine vernünftige Alternative zu unserer Überzeugung, ich glaube, dass man das auch objektiv so feststellen kann, zum friedfertigen Ringen der Völker um ein Miteinander..." Zwar fliegt der Kugelschreiber übers Papier, aber er kann die vielen Floskeln, die der SPD-Chef aneinanderfügt, nicht festhalten, jedenfalls nicht in einer sinnvollen Reihe.
Sie verschwimmen ineinander, man weiß nicht, wohin die Barke fährt. Bevor man sich aber verliert im Nebel dessen, was Beck, Zettels Albtraum, auf seinen Karteikarten notiert hat, spricht er wieder einen dieser Sätze, die wahr sind und gleichzeitig so entsetzlich schlicht: "Menschen sind mit ihren Stärken und Schwächen Individuen."
Jawoll. Ganz richtig. Einige im Plenum klatschen, denn es könnte ja sein, dass dieser Satz, gesprochen am Sonntag im Hamburger Kongresszentrum, eine tiefere Bedeutung hat, die man nur eben nicht erkennen kann, weil sich die Rede Becks zum SPD-Grundsatzprogramm ja gerade noch entwickelt.
Eigentlich entwickelt sich diese Rede die ganze Zeit, sie ist nicht, wie es im Englischen so schön heißt, work in progress, also Arbeit in der Entwicklung, sondern eher progress in progress, also Entwicklung in der Entwicklung. Als Kurt Beck am Ende angekommen ist, sind alle froh: Er selbst, weil er erkältet ist und es ihm vermutlich auch reicht; die Delegierten, weil man am Ende einer Rede immer klatschen kann; die Journalisten, weil sie jetzt aufhören können, Becks Wortkaskaden aufzuschreiben und sie dann wieder durchzustreichen, weil sich ihr Sinn während des Sprechens beziehungsweise des Schreibens verflüchtigt hat.
Etwas aus der Bahn
Dieser Parteivorsitzende, soviel steht am Ende des Parteitages in Hamburg fest, ist ein guter Taktiker, der gleichzeitig links und rechts ist, so wie sein Zweireiher eben auch zwei Knopfreihen hat. Er hat ein ziemlich sicheres Gefühl für die Stimmung in seiner Partei, das er allerdings öffentlich nur schlecht ausdrücken kann.
Er ist nämlich ein wirklich schlechter Redner, was nur dadurch etwas kompensiert wird, dass Reden auf Parteitagen von Delegierten oft anders eingeschätzt werden als von Politprofis und Journalisten. Während der Delegierte sagt, Beck habe doch in seiner endlosen Rede am Freitag alles angesprochen, sagt der Journalist, erstens sei genau das das Problem, und zweitens habe er sich nicht zur bemannten Weltraumfahrt geäußert. Dann dreht sich der Delegierte um und ist böse.
Kurt Beck sitzt einer Partei vor, in der zumindest viele Delegierte, also die Aktivsten der Organisierten, wieder weiter nach, nun ja, "links" wollen, zumindest dahin, wo man sich einig über seine Gegner ist: die Neoliberalen, aber auch George Bush, Oskar Lafontaine und Michael Glos, dann alle mit dicken, schnellen Dienstwagen und außerdem natürlich Mehdorn sowie Mindestlohnunterschreiter.
Wenn man schon etwas länger im politischen Geschäft ist, konnte man sich vom Hamburger Parteitag an die achtziger Jahre erinnert fühlen. Damals war die Partei links und ziemlich grün, viele wollten von der verflossenen SPD-Kanzlerschaft nicht mehr sehr viel wissen. Im Prinzip ist das heute bei vielen Delegierten wieder so, und vielleicht haben sie gerade deswegen an diesem Wochenende wieder ein Tempolimit 130 beschlossen, obwohl bei der SPD Tempo 100 schon seit 1985 Beschlusslage der Partei ist. "Ich merkwürdiger Pedant", erinnert sich der Parteiveteran Hans-Jochen Vogel am Sonntag in einer Rede, "bin damals ein paar Monate lang mit dem Dienstwagen nur 100 gefahren."
Im Laufe des Parteitags, genauer gesagt am Samstagnachmittag, erweist sich zweierlei: Zum einen kann man beobachten, dass Kurt Beck zwar, demosthenesmäßig gesehen, ein schlechter Redner, dafür aber ein geschickter, möglicherweise sogar führungsstarker Parteichef ist.
Zum anderen hat Franz Müntefering, der Pflichtmensch aus dem Sauerland, einen Auftritt, der wieder einmal beweist, wie schade es für die SPD ist, dass Müntefering damals im Herbst 2005 wegen der täppischen Verschwörer um Andrea Nahles den Parteivorsitz niedergeworfen hat. Beck ist ein gewiefter Gremienlenker. Müntefering aber ist der beste Parteivorsitzende, den die SPD nicht hat.
Der Reihe nach und mit Becks Qualitäten beginnend. Die erweisen sich an jenem Thema, von dem in Hamburg alle sagten, es sei nach dem entschiedenen Streit zwischen Beck und Müntefering um die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes der einzig verbliebene wirkliche Konflikt. Es geht um die Bahn, genauer gesagt um den Unmut der Mehrheit der Sozialdemokraten, einen Teil der Bahnaktien an private Investoren, auf Münteferingsch: an Heuschrecken, zu verkaufen.
Die Sozen haben sich bekanntlich schon vor dem Parteitag nach langem, intensivem Streit auf einen Kompromiss geeinigt, den Bahnchef Mehdorn für Blödsinn hält, der im Steinbrück-Lager immer noch Augenrollen hervorruft und den die Union mehrheitlich ablehnt: Ein Viertel der Aktien soll als sogenannte stimmrechtslose Vorzugsaktien ("Volksaktien") unter die Menschen, und zwar Kleinanleger, gestreut werden. Dies soll der Bahn frisches Geld sowie dem Volk relativ risikolose Aktien bringen, streckenstilllegende Investoren draußen halten und die Rolle der öffentlichen Hand als einzig relevantem Eigentümer des "Kulturgutes Bahn" sichern.
Als die Debatte über die Bahnprivatisierung im Plenum beginnt, wird schnell klar, dass da Unheil dräut. Zum einen hat sich der Parteitag vorher mit zwei für die Realpolitik vermutlich relativ irrelevanten, dafür aufregungsträchtigen Voten für ein Tempolimit 130 und gegen die steuerliche Absetzbarkeit dicker Dienstwagen schon mal kleinrevolutionär warmgestimmt. Beides sah die Antragskommission, ein den Parteitag bis zu einem gewissen Grad mitsteuerndes Gremium, so nicht vor.
Beides aber machte vielen Delegierten, mal abgesehen von der Ökologie, auch ein gutes Gefühl, weil es ja zum Beispiel auch nicht angehe, wie eine Rednerin im Juso-Alter schimpfte, dass die Abgeordneten sich immer allein zum Flughafen Tegel fahren ließen und somit "in Berlin die Luft verpesten". Und ein Tempolimit ist in Deutschland sowieso stets ein sicheres Aufregerthema, so dass es egal ist, dass eine Geschwindigkeitsbegrenzung nicht mal von der verstorbenen rot-grünen Regierung verwirklicht worden ist.
Es brodelt also, als die Bahn aufgerufen wird. Keiner der ersten zehn Redner spricht gegen das Volksaktien-Modell. Dafür wollen etliche die Parteispitze und die Minister auf ein Alles oder Nichts verpflichten: Wenn das Volksaktien-Modell mit der Union nicht zu machen ist, so heißt es in einem Änderungsantrag, dann solle die SPD eben jedwede Privatisierung der Bahn ablehnen. Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee spricht sich in einer recht lahmen Rede gegen diese Verknüpfung aus.
Der Juso-Chef Björn Böhning dagegen erhält viel Beifall, als er dieses Junktim begründet. Noch mehr Beifall gibt es für den Altlinken Peter Conradi, der überhaupt nicht will, dass die Bahn privatisiert wird, nicht einmal mit einer Volksaktie. "Wenn für Investitionen Geld gebraucht wird", ruft Conradi, "dann soll man eben eine Anleihe mit viereinhalb Prozent Zinsen auflegen." Neue Staatsverschuldung für die "Bürgerbahn" kommt gut an bei etlichen Delegierten, während Finanzminister Peer Steinbrück mit leicht verkniffenem Mund intensiv in seine Handflächen blickt, so als stünde da geschrieben: "Lauter Verrückte."
Die Stimmung ist eindeutig im Saal: 20 Redner stehen noch auf der Liste, die der Tagungspräsident Olaf Scholz führt. Wenn es so weitergeht, wird der Parteitag mit einer Mehrheit von 70 oder 80 Prozent das Junktim - Privatisierung nur mit Volksaktie oder gar keine Privatisierung - beschließen.
Das will die Parteispitze nicht, die Minister wollen es nicht, und auch der Parteichef Beck mag es nicht, weil es ihm keinerlei Verhandlungsraum ließe mit den Schwarzen und Angela Merkel. Also schnauft Beck, steht von seinem Platz am Podium auf und schiebt sich zum Rednerpult. Dort stellt er auf eine rhetorisch etwas verschwiemelte, also typisch Beck’sche Art die Vertrauensfrage.
Sieg und Niederlage in einem
Er wolle "den Anderen" das SPD-Konzept mit der Volksaktie vorstellen, erklären, mit ihnen reden. Wenn die aber was anderes wollten, dann müsse er schon die Möglichkeit haben, das erst mal zu beurteilen, zu beraten... "Nein", rufen ein paar im Plenum, "nein, nein!" Jetzt wird Beck fuchtig: "Lasst mich doch bitte wenigstens zu Ende sprechen. Ich bin mittendrin", schimpft er, "das erwarte ich, bevor ihr ,nein’ ruft."
Starke Unruhe.
Beck fährt fort, liest von einem Zettel einen kompliziert formulierten Satz ab, der im Prinzip darauf hinausläuft, dass der Parteivorstand im Falle der Ablehnung des "Modells der stimmrechtslosen Vorzugsaktie" durch den Koalitionspartner sich mit etlichen Parteigremien sowie sonstigen Beteiligten beraten und "jedwede vorgeschlagene Lösung beurteilen" darf.
Das Urteil soll dann dem nächsten Parteitag zur Entscheidung vorgelegt werden. "Ich habe die herzliche Bitte an Euch," ruft der tags zuvor mit 95 Prozent gekürte Parteichef, "dass dem neu gewählten Parteivorstand soviel Vertrauen entgegengebracht wird..."
Als Tagungspräside Scholz den Vorschlag seines Chefs zur Abstimmung bringt, gibt es eine einzige maue Gegenrede und nur erstaunlich wenig Gemurre. Nicht alle haben verstanden, was Beck genau will, etliche haben den komplizierten Wortlaut nicht richtig mitgekriegt. Aber fast jeder versteht, was Beck da tut: Der Parteichef will eben nicht auf Alles oder Nichts festgelegt werden, und weil er das öffentlich gemacht hat, würden sie ihn vielleicht irreparabel beschädigen, wenn sie es ihm nun doch aufdrückten.
Dann käme mit Macht die Debatte wieder, dass Beck zu schwach ist, und die SPD fiele tief in den Keller und ... Also heißt der Parteitag mit großer Mehrheit seine freundliche Erpressung durch den Parteichef gut. Kurt Beck hat gewonnen, weil er auf Risiko gespielt hat. Er hat aber auch verloren, weil die Regierungs-SPD, das eine Lager in der Partei, eigentlich für eine Bahn-Privatisierung ist, wohingegen die Oppositions-SPD, die stärker auf diesem Parteitag ist, sie ablehnt. Und so wie es jetzt aussieht, ist die Privatisierung nun tot oder zumindest komatös.
Etwas später sieht Beck definitiv nicht mehr führungsstark aus. Franz Müntefering musste sich, wie ausführlich berichtet, Beck beugen, als der relativ überraschend befand, dass man das Arbeitslosengeld I länger auszahlen solle, als dies die Agenda 2010 vorsieht und der Arbeitsminister Müntefering es für gut heißt.
Müntefering schluckte den Ärger hinunter, wie es meistens seine Art ist. Als er allerdings auf dem Parteitag den Leitantrag mit dem schönen Titel "Gute Arbeit" vorstellt, leistet Müntefering auf seine Weise ziemlich gute Arbeit.
Onkel Herberts guter Rat
Er hält eine fulminante Rede, in der es um den Mindestlohn, die soziale Gerechtigkeit, die Managergehälter und ähnliches mehr geht - lauter Dinge, die die Partei aufregen und in denen sich die Delegierten eins wissen mit Müntefering, und der eins ist mit der Partei.
Immer wieder wird er von Jubel unterbrochen, und zwar nicht von jener Art Pflichtjubel, der Beck bei seiner drögen Gemischtwarenrede am Tag zuvor gezollt worden war. Der Vizekanzler, der von den Freunden der Gerechtigkeit in seiner eigenen Partei ein paar Wochen lang nur als der Agenda-Knecht wahrgenommen worden war, redet sich zurück in alle Herzen.
Und es gibt jene wunderbaren Müntefering-Gemeinheiten, die man erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennen kann. Da lobt er den ehemaligen Arbeitsminister Walter Riester, der auch auf dem Parteitag ist und den jeder nur fragen solle, weil der alles wisse und es auch noch erklären könne.
Die Leute jubeln über Münte und Riester, und die Gemeinheit liegt darin, dass Riester jedem, der ihn danach fragt, ausführlich erklärt, warum es falsch sei, das Arbeitslosengeld I länger auszubezahlen, so wie es Beck initiiert und der Parteitag beschlossen hat.
Zum Schluss seiner Rede erzählt Müntefering dann noch eine seiner beliebten Wehner-Anekdoten, die man kennt, wenn man Müntefering kennt, obwohl er sie immer wieder so erzählt, dass man den Eindruck haben kann, jetzt höre man sie wieder mal zum ersten Mal.
Diesmal ist es die Geschichte, wie der junge Abgeordnete Müntefering zum altvorderen Fraktionschef Onkel Herbert gekommen sei, um diesem zu erklären, wie er die Welt verändern wolle. Der Onkel habe erst nichts gesagt, seine Pfeife gekaut und dann hervorgepresst: "Fang mal an. Aber pass auf, dass du nicht vertrocknest."
Und dann wird Müntefering noch etwas lauter und ruft in den begeisterten Saal: "Ich wollte nur sagen, es ist noch was da. Ich bin noch nicht vertrocknet."
Tosender Beifall, der sich überschlägt. Müntefering geht zurück auf seinen Platz, vorbei an Beck, der so eine Rede, die aus dem Herzen kommt und ins Herz der Partei trifft, niemals hinkriegen wird. Und weil der Saal gar nicht aufhören will zu toben, läuft Müntefering noch einmal nach vorn ans Pult, und dabei nimmt er Kurt Beck mit.
Die beiden stehen da, Beck überspült von Münteferings Jubel. Wäre man garstig, könnte man denken, dass das eine sehr subtile Form der nahezu patriarchalischen Rache ist, wie Müntefering seinen Parteichef da in einer Begeisterung baden lässt, die Beck selbst nicht erzeugen kann.
Quelle:
Süddeutsche Zeitung 29. Oktober 2007
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